Der Spuk, der blieb
Ein Relikt des linken Widerstands: Das Thomas-Weissbecker-Haus in Kreuzberg wird 30 Jahre alt
Brenda Strohmaier
Kreuzberg gilt wieder als angesagt. Selbst aus den Ost-Szene-Bezirken
pilgern junge Menschen dorthin, um zu feiern. Ein paar bunte Häuser
erinnern noch daran, dass die Jugend einst aus anderen Beweggründen
nach Kreuzberg kam: Hier gab es etliche leer stehende Gebäude, in denen
sich Träume verwirklichen ließen. Eines
dieser wild bemalten Häuser feiert diese Woche seinen 30. Geburtstag:
das Thomas-Weissbecker-Haus. Viele kennen das Gebäude in der
Wilhelmstraße 9 wahrscheinlich vom Sehen, wohl auch die Mitarbeiter der
neuen SPD-Parteizentrale, die nur ein paar Häuser weiter residieren.
Die wenigsten dürften jedoch wissen, dass sich hinter der bunten
Fassade eines der ersten alternativen Jugendwohnprojekte Berlins
befindet. Ein Haus für Treber Selbst die inzwischen
grauhaarigen Gründer halten es für ein kleines Wunder, dass das Haus
noch existiert. "Die Senatsverwaltung hat damals gedacht, der Spuk sei
in drei Wochen vorbei", erzählt Hans-Dieter Will. Heute ist er
Professor in Erfurt, vor 30 Jahren war er Vorstand des Vereins für
Sozialpädagogische Sondermaßnahmen (SSB). Der SSB hatte bereits das
Jugendzentrum Drugstore in der Potsdamer Straße gegründet und war nun
auf der Suche nach einem Haus, in das junge Treber einziehen konnten.
"Damals waren die meisten Berliner Heime geschlossene Häuser, aus denen
massenweise Kinder wegliefen", sagt Will. Nach Schätzungen des Vereins
lebten Anfang der 70er-Jahre in Berlin 1 000 bis 1 500 Jugendliche auf
der Straße. Einige von ihnen kamen im Rauch-Haus am Mariannenplatz
unter, das 1971 besetzt worden war. Der SSB entdeckte schließlich
das Haus in der Wilhelmstraße 9. Es gehörte dem Senat, war mit Küche
und Bädern ausgestattet und stand schon seit einigen Jahren leer.
Besetzt hat es der Verein jedoch nicht. "Das wäre politisch nicht
durchgegangen", sagt Will. Stattdessen lud der Verein die Treber ein,
in den Drugstore zu ziehen. Mehr als hundert folgten der Einladung.
Dies kam einer Besetzung des Jugendzentrums gleich. Geschickt
konnte der SSB dann die Bevölkerung für die Nöte der Jugendlichen
sensibilisieren. "Einmal sind wir im Gänsemarsch mit 80 Jugendlichen
von der Potsdamer zur Wilhelmstraße marschiert, um dort duschen zu
gehen." So sauberen Menschen musste der Senat dann schließlich ein Dach
über dem Kopf geben: Am 2. März 1973 unterschrieb der Verein einen
Mietvertrag. Ein Namensgeber aus dem linken Spektrum war schnell
gefunden: Ein Jahr zuvor war Thomas Weisbecker - der Verfassungsschutz
schreibt den Namen des Mitglieds der terroristischen "Bewegung 2. Juni"
mit nur einem "s" - von der Polizei erschossen worden. Damals
waren Menschen wie Weisbecker noch Helden, und die Idee war noch
revolutionär, dass Kinder aus dem Heim gemeinsam mit anderen jungen
Menschen in einem selbstverwalteten Kollektiv wohnen sollten; in einer
Hausgemeinschaft also, die von der Renovierung bis über die Verpflegung
alles eigenständig organisiert. "Bis heute kann man sagen, dass das
klappt", sagt Will. Allerdings helfen inzwischen eine Sozialarbeiterin,
eine Teilzeit-Bürokraft und ein Hausmeister mit. Derzeit wohnen
noch 38 Menschen in dem Gebäude, dass sie meist Tommy-Haus abkürzen.
Jeder von ihnen zahlt 179 Euro Miete im Monat. Nur zwei der Bewohner
sind jugendliche Heimflüchtlinge. Die meisten sind zwischen 20 und 30
Jahre alt. Manche von ihnen wollen einfach alternative Lebensformen
ausprobieren. Für andere dagegen war es eine letzte Zuflucht. Wie für
die 21-jährige Denise, die vor einem Jahr plötzlich auf der Straße
stand. Nun sucht sie aber wieder nach einer Wohnung. Vor allem von
regelmäßigen WG-Diskussionen hat sie langsam die Nase voll: "Es wird
immer nur geredet, passieren tut nichts." "Zu selbstverständlich" Auch
der derzeit noch amtierende Haus-Vorstand, die 25-jährige Nadja,
wünschte sich ein bisschen mehr Einsatz der Bewohner. 2007
läuft der Mietvertrag aus und schon jetzt muss ihrer Meinung nach der
Kampf für die Verlängerung aufgenommen werden. "Doch wenn das so
weitergeht, sehe ich schwarz", sagt sie. "In den 70er-Jahren musste man
noch für etwas kämpfen. Heute ist es für die Leute hier zu
selbstverständlich, dass es das Tommy-Haus gibt." Doch die
Zeiten sind vorbei, das weiß auch der älteste Bewohner des Hauses,
Thomas Kramer, genannt Otto, der seit 25 Jahren in einem Zimmer im
vierten Stock des Tommy-Hauses wohnt. Der 50-Jährige vermisst ein
echtes Gemeinschaftsgefühl. "Früher sind wir noch zusammen auf Demos
gegangen", erzählt er. Heute gingen nur noch zwei, drei auf die Straße.
Er selbst allerdings auch nicht mehr.
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